Wir Menschen im Westen haben eine bestimmte Vorstellung von Religion, Philosophie und Metaphysik. Für uns im Westen stammt der Begriff Religion aus dem hebräisch-christlich-islamischen Kontext und hat eine ganz präzise Bedeutung, die im theologischen Aufbau enthalten ist, den diese Religionen erarbeitet haben.
Es wäre ungenau, von hinduistischer Religion zu sprechen, weil der Hinduismus in seiner Gesamtheit und
zu allen Zeiten eher als eine »Seinsweise«, als eine Art
zu leben und eine Ausdrucksform zu verstehen ist, und
nicht als eine organisierte, hierarchisch strukturierte und dogmatische Religion. Man kann allerdings von »hinduistischer Kultur«, »hinduistischem Bewusstsein« und »hinduistischer Haltung« sprechen.
Der Hinduismus greift auf die Veden zurück, die weniger ein theologisch-dogmatischer corpus als vielmehr eine
Synthese aus Philosophie, Metaphysik, Mystik,
Kosmogonie, überlieferter Magie und anderen
Wissenschaften und Praktiken sind. Der Hinduist würde
sagen, in den Veden ist alles enthalten, was man wissen muss. Sie – und damit der Vedanta als ihr Abschluss und ihre Krönung – sind der sanatanadharma, die ewig gültige Lehre, die keine Geschichte hat, weil sie keinen Anfang hat. Christentum, Judentum und Islam sind in der Zeit entstanden, sie haben einen Anfang und einen Gründer: Jesus, Moses und Mohammed.
Der Hinduismus hat keinen Begründer. Selbst die Rishis,
die die Veden verbreitet haben, sind »nur« Übermittler
dereinen ewigen Wahrheit, die übergeschichtlich und
nicht-menschlich ist. Von vielen Rishis kennt man nicht einmal den Namen, und bei einigen von ihnen ist der Name eher mythisch zu verstehen.
Der Hinduismus ist keine Religion, so wie man diesen Begriff im Westen versteht. Ein Jude, der Christ werden
will, braucht sich nur christlich taufen lassen, um
automatisch in die christliche Religionsgemeinde
aufgenommen zu werden.
Für alle diejenigen aber, die Hinduisten werden
wollen, geht das allein deshalb nicht, weil die Taufe bei
den Hindus gar nicht existiert. So könnte man auf den
Gedanken kommen, dass man nur durch Geburt Hinduist
werden kann. Auch das trifft nicht zu, denn im Westen
gibt es Menschen mit »hinduistischem Bewusstsein«
ebenso wie es im Osten Menschen gibt, die sich als
Christen oder Mohammedaner fühlen. Der Begriff
»Osten« sollte also keinesfalls in geographischem Sinn
verstanden werden.
Abschließend kann man sagen, dass im Osten – im
Gegensatz zum modernen Westen – Philosophie und
Religion stets eine Einheit bilden, wobei die eine die
andere integriert.